Charles Perrault - der Schöpfer des Rotkäppchens
Die erotische Warnung für Mädchen
Ein Artikel von Sehpferd © 2008 by sehpferd
Dem Schriftsteller und Dichter Charles Perrault (12.1.1628 - 16.5.1703) haben wir es zu verdanken, dass "Rotkäppchen" überhaupt aufgeschrieben wurde, denn zuvor existierten nur mündlich überlieferte Versionen. Der Dichter warnt junge Mädchen davor, leichtfertig auf die Versprechungen von "Wölfen" einzugehen: Je süßer die Sprache der Wölfe, umso schärfer die Zähne, lautet seine endgültige Moral.
Die Geschichte vom Rotkäppchen, wie sie Charles Perrault erzählte
Es war einmal in einem Dorf ein kleines Mädchen, das hübscheste, das man sich vorstellen konnte; seine Mutter war ganz in das Kind vernarrt, und noch vernarrter war seine Großmutter. Diese gute Frau ließ ihm ein rotes Käppchen machen, und weil ihm das so gut stand, nannte man es überall nur Rotkäppchen. Eines Tages sprach seine Mutter, die gerade Fladen gebacken und zubereitet hatte, zu ihm: "Sieh einmal nach, wie es deiner Großmutter geht, denn man hat mir gesagt, sie sei krank. Bring ihr einen Fladen und diesen kleinen Topf Butter."
Rotkäppchen lief sogleich davon, um zu seiner Großmutter zu gehen, die in einem anderen Dorf wohnte. Als es durch einen Wald kam, traf es den Gevatter Wolf, der große Lust hatte, es zu fressen; aber er wagte es nicht wegen einiger Holzfäller, die in dem Wald waren. Er fragte es, wohin es gehe. Das arme Mädchen, das nicht wußte, daß es gefährlich war, stehenzubleiben und einem Wolf zuzuhören, sagte zu ihm: "Ich besuche meine Großmutter und bringe ihr einen Fladen und einen kleinen Topf Butter, die ihr meine Mutter schickt." "Wohnt sie denn sehr weit?" fragte der Wolf.
"Oh ja", sagte das kleine Rotkäppchen, "es ist noch ein Stück hinter der Mühle, die Ihr da unten seht, im ersten Haus vom Dorf." "Na schön!" sagte der Wolf. "Dann will ich sie auch besuchen. Ich gehe diesen Weg hier, und du gehst den anderen Weg da-mal sehen, wer eher da ist." Der Wolf lief aus Leibeskräften den Weg, der kürzer war, und das kleine Mädchen ging den längeren Weg, wobei es seine Freude daran hatte, Haselnüsse zu sammeln, Schmetterlingen nachzujagen und Sträuße aus den Blümchen zu binden, die es fand. Der Wolf brauchte nicht lange, um zum Haus der Großmutter zu gelangen. Er klopfte an: poch, poch.
"Wer ist da?"
"Ich bin Euer Töchterchen Rotkäppchen", sagte der Wolf, indem er seine Stimme verstellte, "und bringe Euch einen Fladen und einen kleinen Topf Butter, die Euch meine Mutter schickt."
Die gute Großmutter, die im Bett lag, weil sie ein wenig krank war, rief ihm zu: "Zieh den Pflock, dann fällt der Riegel."
Der Wolf zog den Pflock, und die Tür ging auf. Er stürzte sich auf die gute Frau und verschlang sie im Nu, denn er hatte schon seit über drei Tagen nichts gegessen. Darauf schloß er die Tür wieder und ging hin und legte sich in das Bett der Großmutter, um dort auf das kleine Rotkäppchen zu warten, das einige Zeit später kam und an die Tür klopfte: poch, poch.
"Wer ist da?" Als Rotkäppchen die rauhe Stimme des Wolfs hörte, hatte es erst Angst, aber weil es meinte, die Großmutter sei erkältet, gab es zur Antwort: "Ich bin Euer Töchterchen Rotkäppchen und bringe Euch einen Fladen und einen kleinen Topf Butter, die Euch meine Mutter schickt."
Der Wolf rief ihm zu, indem er seine Stimme ein wenig sanfter machte: "Zieh den Pflock, dann fällt der Riegel." Rotkäppchen zog den Pflock, und die Tür ging auf.
Als der Wolf sah, daß es hereinkam, versteckte er sich im Bett unter der Decke und sagte zu ihm: "Stell den Fladen und den kleinen Topf Butter auf den Backtrog und leg dich zu mir." Das kleine Rotkäppchen zieht sich aus und geht hin und legt sich in das Bett, wo es zu seinem allergrößten Erstaunen sah, wie seine Großmutter ohne Kleider beschaffen war. Es sagte zu ihr:
"Großmutter, was habt Ihr für große Arme!" "Damit ich dich besser umfangen kann, mein Kind!" "Großmutter, was habt Ihr für große Beine!" "Damit ich besser laufen kann, mein Kind!" "Großmutter, was habt Ihr für große Ohren!" "Damit ich besser hören kann, mein Kind!" "Großmutter, was habt Ihr für große Augen!" "Damit ich besser sehen kann, mein Kind!" "Großmutter, was habt Ihr für große Zähne!" "Damit ich dich fressen kann!"
Und mit diesen Worten stürzte sich der böse Wolf auf Rotkäppchen und fraß es.
Die Moral
''Hier sieht man, dass ein jedes Kind und dass die kleinen Mädchen (die schon gar, so hübsch und fein, so wunderbar!) sehr übel tun, wenn sie vertrauensselig sind, und dass es nicht erstaunlich ist, wenn dann ein Wolf so viele frisst. Ich sag ein Wolf, denn alle Wölfe haben beileibe nicht die gleiche Art: Da gibt es welche, die ganz zart, ganz freundlich leise, ohne Böses je zu sagen, gefällig, mild, mit artigem Betragen die jungen Damen scharf ins Auge fassen und ihnen folgen in die Häuser, durch die Gassen Doch ach, ein jeder weiß, gerade sie, die zärtlich werben, gerade diese Wölfe locken ins Verderben.''
Die Moral (Original, französisch)
''On voit ici que de jeunes enfants, Surtout de jeunes filles Belles, bien faites, et gentilles, Font très mal découter toute sorte de gens, Et que ce nest pas chose étrange, Sil en est tant que le Loup mange. Je dis le Loup, car tous les Loups Ne sont pas de la même sorte ; Il en est dune humeur accorte, Sans bruit, sans fiel et sans courroux, Qui privés, complaisants et doux, Suivent les jeunes Demoiselles Jusque dans les maisons, jusque dans les ruelles ; Mais hélas ! qui ne sait que ces Loups doucereux, De tous les Loups sont les plus dangereux.''
Sehpferd bemerkt:
Das im Ursprung wahrscheinlich italienische Märchen wurde in Frankreich so abgewandelt, dass eine doppelte Moral am Schluss steht: Tu es nicht, aber du wirst es ja doch tun: Irgendwann erliegt jedes junge Mädchen einer Verführung. Deswegen denkt der Autor,Charles Perrault, auch gar nicht daran, dem Märchen einen versöhnlichen Schluss zu geben, wie es bei den Brüdern Grimm und in einigen englischen Ausgaben der Fall ist: Verführt ist verführt, und die verlorene Jungfernschaft kann auch ein Jäger nicht wieder herstellen.
Auf in die Praxis:
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